Ohne einen Schuß.

Eine Erinnerung aus dem Feldzuge 1870/71 von G. R.
in: „Berg.-Gladbacher Zeitung” vom 23.4.1897,
in:
„Neue westfälische Volks-Zeitung” vom 5., 6.5.1897,
in: „Erholungsstunden zur Unterhaltung und Belehrung im häuslichen Kreise” vom 4., 11.7.1897,
in: „Dorf-Chronik und Grafschafter” vom 19.10.1897,
in: „Herforder Kreisblatt” vom 22.6.1899


Wir gingen ganz ohne Ueberhastung, sozusagen Schritt vor Schritt durch den Wald vor und bemühten uns nach Kräften, möglichst wenig Geräusch zu machen. Das hatte seinen triftigen Grund, denn wir sollten und wollten nämlich jemanden „überfallen”, und zwar unsern alten Freund Franzmann. Solche unvermuteten Besuche stattet man am liebsten zwischen Mitternacht und erstem Morgengrauem ab, weils erstens so in den Iustruktionsbüchern steht, und weil zweitens um diese Zeit der Schlaf am festesten sein soll. Unser Kompagnieführer hatte sich aber mal zur Abwechslung die Zeit des ersten Schlafes nach zehn Uhr ausgesucht und nur seine Absicht zurückmelden lassen, ohne auf Bestätigung höhern Orts zu warten. Es war eine gewisse vorsichtige Eile notwendig, Verzögerung hätte möglicherweise den ganzen Scherz verdorben. Gegen dreiviertel auf 10 Uhr erst brachte einer unserer pfiffigsten schneidigsten Patrouillenführer, der Gefreite Springer, eine wichtige Meldung, und schon zehn Minuten darauf standen zwei Züge der Kompagnie fix und fertig zum Abmarsch, Tornister, Kessel und Helme blieben zurück, wir rückten mit gerollten Mänteln und Mützen aus, die Patronenbüchsen im Brodbeutel.

Schwierigkeiten verursachte das schnelle Antreten keineswegs, da wir so wie so als zur Unterstützung der Kavalleriedivisionsstellung vorgeschobene Infanterie jederzeit auf dem Sprunge standen. Das kleine Dörfchen Bussy, unser derzeitiges Quartier, blieb durch einen Zug Füsiliere und einen desgleichen Husaren besetzt. Die ganze Geschichte spielte sich im letzten Drittel des November 1870 in der Gegend von Chatillon le Roi im Herzen Frankreichs ab, wie wir hiermit ganz ergebenst bemerken wollen. Unser Kompagnieführer war der Premierlieutenant Pfeil vom Bogen (er hieß zwar nicht genau so, aber ähnlich), ein kernfrischer, nimmermüder Feldsoldat, scharf wie Meerrettig im Dienst, aber stets mit wahrer Herzensgüte für unser aller Wohl besorgt. Wir hingen an dem tapfern, wohlwollenden Manne, trotz mancher scheinbar harten dienstlichen Kanten mit wirklicher Zuneigung und vor allem mit rückhaltslosem Vertrauen, und das letztere ist im Kriege das wichtigste. Der Bericht des Patrouillenführers Springer, wie wir allerdings erst am nächsten Tage erfuhren, hatte ungefähr folgendermaßen gelautet: Er hatte laut Befehl bald nach unserm Eintreffen im Quartier am späten Novembernachmittag den fünfhundert Schritt vorwärts Bussy anfangenden, eine halbe Stunde breiten Waldstreifen behutsam zu beiden Seiten eines Fußweges durchschritten und jenseits in freier Feldlage ein Dorf bemerkt, das wiederum etwa fünfhundert Schritt vom Walde entfernt lag. Am Rande des Holzes hielt die Patrouille und „sicherte” mit Auge und Ohr. Die Sonne war zwar schon längst untergegangen, aber am klaren Himmel standen Mond und Sterne, sodaß man ziemlich weit mit einiger Deutlichkeit Umschau halten konnte.

War das Dorf besetzt? Das mußte der schlaue, verwegene Gefreite noch herauskriegen, ehe er umkehrte. Rechts von seinem Standpunkte schob sich eine niedrige Feldhecke ähnlich den Knicks in Schleswig-Holstein, fast bis an den Wald in schnurgerader Linie vom Dorfe aus heran; in deren günstigem Schatten beschloß er sich anzuschleichen. Kaum hatte er ein paar Schritte vorwärts gethan, so hörte er rechts vorwärts entferntes Hufgetrappel. Alle drei Patrouilleure duckten sich nieder und blickten scharf nach dem Hortzont. Sie entdeckten auch eine Kavallerieabteilung von ungefähr zwanzig Pferden, die sich nach den sich am Himmel abhebenden langen, schräg aufwärts stehenden Strichen mit obern Anhängseln zu urteilen, für deutsche Ulanen erklärten. Vornweg trabten ein paar einzelne Reiter ins Dorf ein, nach geraumer Weile folgte der Haupttrupp. Auf einmal krachten ein Dutzend Schüsse, man vernahm verworrenen Lärm, ein Ulan jagte auf demselben Wege, den er gekommen war, in langem Galopp zurück, dann wurde es wieder vollkommen ruhig. Drei Füsiliere sind keine gewaltige Streitmacht, die ein augenscheinlich vom Feinde stark besetztes Dorf angreifen kann, daher trat Springer nach reiflicher Erwägung die Rückkehr an, prägte sich den Weg genau ein und gelangte unbehelligt zur Kompagnie zurück.

Kurz entschlossen brach Lieutenant vom Bogen, wie wir wissen sofort auf, um das Nest auszunehmen und die noch lebenden Kameraden womöglich zu befreien. Springer führte die Spitze, und gegen halb elf Uhr langten wir am bewußten Waldrande an. Dort ließ er einen Halbzug unter dem Sergeanten Vogt zurück und pürschte mit den andern Mannschaften im Schatten der erwähnten Hecke vorläufig im Gänsemarsch los. Nach achtzig Schritt endete die Deckung und bog im Winkel noch eine kurze Strecke nach rechts. Hier hielten wir nochmals Umschau; bis zu den ersten Häusern flaches Kohlfeld, weiter nichts, kein Baum, kein Strauch. Halt, was ist das? Man hörte unterdrücktes Husten, dann war's wieder still. Der Lieutenant spähte mit dem Feldstecher. welcher zum Glück mit Nachtstellung versehen war, das Dorf entlang und murmelte nach einer Weile „Wahrhaftig nur ein einziger Stift als Posten, hm, den wollen wir uns erst holen!”

Er schnallte den Säbel ab und übergab ihn seinem Feldwebel, der mit von der Partie war. Der einzige noch übrige Offizier führte das Kommando im Quartier, die andern lagen bereits unter der Erde.

„Warten, bis ich wiederkomme! Fallen Schüsse, augenblicklich mit einem ausgeschwärmten Zuge breit vorgehen, ein Halbzug folgt als Soutien! Verstanden?”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!” flüsterte Feldwebel Hänisch.

Indem kroch Leutnant vom Bogen schon wie ein Indianer auf allen Vieren durch die Hecke und ebenso zwischen den Kohlstrünken weiter. Er machte seine Sache vorzüglich, denn wir selbst, die wir doch seinen Weg angestrengt zu verfolgen suchten, vernahmen keinen Laut und sahen nur anfangs ab und zu schattenhaft ein dunkles Etwas am Boden, dann verschwand jede Spur. Drüben wurde noch einige Male gehustet, sonst bliebs still. Wie lange das dauerte, konnten wir alle nicht angeben, es mag eine Viertel oder eine halbe Stunde gewesen sein; uns kams jedenfalls wie eine halbe Ewigkeit vor, bis wir endlich ein leichtes Klappern und Stampfen vernahmen. Endlich tauchten zwei aufrecht gehende Gestalten fast unhörbar vor uns auf, ein französischer junger Mobilgardist mit auf dem Rücken gebundenen Händen und hinter ihm unser Herr Lieutenant mit dem Revolver in der Faust.

„Springer, nehmen Sie den Burschen da in gute Verwahrung. Der erste Zug leise über die Hecke und drüben auf der Grundlinie schwärmen! — Die Mitte hält auf mich Vordermann, — jedes Geräusch wird vermieden, — auf hundert Schritt folgen Sie geschlossen mit dem Halbzug als Soutien, Feldwebel, — Springer mit dem Moblot an der Leine bleibt dicht hinter mir — avancieren!” Der Offizier hatte seinen Säbel wieder umgeschnallt und schritt schnurgerade auf eine Häuserlücke zu, wir mucksmäuschenstill hinterdrein.

„Die Wache?” fragte Lieutenant Bogen, sich nach dem Gefangenen umdrehend, in französischer Sprache. Der Bursche blickte trotzig vor sich hin. Kaltblütig setzte ihm Bogen den kalten Revolverlauf an die Stirn. „Bitte keine Umstände!”

Knirschend antwortete der Mann:„Das erste Haus links, wo das Fenster erhellt ist!”

Wir schlichen näher und umstellten das Haus, während das Soutien in geringer Eutfernung niederkniete. Unser Lieutenant nahm seine Mütze ab und schaute in das Fenster. Er nickte befriedigt.„Eine Sektion mir nach!” Dann öffnete er ohne Umstände die unverschlossene Thür und trat in ein großes, erleuchtetes Gemach. Nur ein Umblick, ein Sprung — und er stand mit gespanntem Hahn zwischen der Wachtmannschaft und ihren in einer Reihe an der Zimmerwand lehnenden Gewehren, wir zu elf Mann wie ein Ungewitter hinterdrein.

Einige Rotspon zechende Mobile sprangen mit lautem Schreckensruf empor, worauf sich die übrige fest schlummernde „Wache”, etwa zwanzig Mann, verdutzt und schlaftrunken aufrappelte. Ihre Gesichter als sie sich rings von feindlichen Bajonetten umstarrt sahen, waren zum Malen.

„Keinen Laut”, sprach der Offizier mit unterdrückter Stimme, aber grimmigem Nachdruck, „oder müßt alle sterben!”

Augenblicklich trat eine wohlthuende Ruhe ein.

„Führt sie einzeln heraus und zum Soutien, — wehe dem der einen Mann entwischen läßt!”

Der brave Hänisch nahm die Gefangenen in seine Arme und hielt sie liebend fest, dem entkam keiner.

„Weiter,” wandte sih Bogen draußen an seine erste Beute,„die Offiziere?”

Zwei Häuser weiter, im Gasthofe, wiederholte sich das flotte Spiel mit dem Unterschiede, daß die Herren Mobilgardenführer in vortrefflichen Himmelbetten überrascht wurden und sich ebenfalls bereits ihrer Waffen beraubt sahen, ehe man ihnen Zeit zum Ankleiden gönnte.

Der älteste derselben, wie wir später erfuhren, ein Advokat, der zum erstenmale in seinem Leben Waffen getragen hatte, beabsichtigte, sich anfangs aufs hohe Pferd zu setzen, und zeterte von „Völkerrecht”, ungewöhnlichem Kriegsbrauch, rutschte aber umgehend aus dem unsichtbaren Sattel auf den natürlichen Erdboden, als ihn Bogen anherrschte: „Wo sind die gefangenen Ulanen?”

Heftig begann der Franzose zu zittern und wurde totenblaß.

„Antwort, Herr, oder Sie springen über die Klinge.”

„Im Spritzenhause!” erwiderte der Herr Kapitän und Notar sehr kleinlaut.

„Vorwärts, führen Sie mich selbst! Versorgt euch mit einer Laterne und Streichhölzern, nehmt auch den Mantel des Herrn mit!” wendete sich Bogen an uns. — „Sechs Mann bleiben zur Bewachung der Wirtsfamilie und der Offiziere hier, bringt alle in ein Zimmer nach dem Hofe!”

Vorsichtig gings nach ein paar Minuten wieder in der nächtlichen Gasse vorwärts, unser Lieutenant mit dem Moblotführer zehn Schritt voraus. „Dort!” deutete an der nächsten Ecke letzterer auf ein freistehendes Gebäude.

„Steht ein Posten?”

„Ja!”

Bogen winkte uns näher heran und zog den französischen Offiziersmantel an, in dessen rechte Seitentasche er seinen Revolver versenkte.

Seinen gerollten Mantel und die Feldmütze gab er zum Halten, nahm mit einem höflichen: „Excusez, Monsieur!” dem Kapitän das goldgestickte Kasquet ab und drückte es selbst aufs Haupt.

„Haltet mal den Mann inzwischen, aber sicher!”

Mit schlenderndem Schritt, nachlässig vornübergebeugt, näherte sich nunmehr der Verkleidete dem Spritzenhaus. Wir hörten bald darauf einige Worte im ruhigsten Gesprächston und hinterher ein scharfes „St!” Im Nu waren wir dort und fanden einen zappelnden Mobilen in der Eisenfaust unseres Führers, den Chassepot hielt Bogen in der linken Hand. „So, nehmt mir mal das Würmchen ab, — Herr Kapitän, wo ist der Schlüssel?”

Dieser fand sich an einem Hacken neben der Thür. Ersticktes Stöhnen klang uns beim Eintreten in den kalten Raum entgegen, die Laterne wurde angezündet, und was wir nun entdeckten, ließ uns vor Wut knirschen.

An einer Wand, hinter einem Wasserwagen, lagen acht Leichen preußischer Ulanen. Gleich ihnen anschließend dreizehn an Händen und Füßen gefesselte lebendige Kameraden, alle außerdem mit Knebeln im Munde; sie ruhten ohne Stroh auf dem gepflasterten Boden.

„Keinen Laut,” befahl Lieutenant Bogen, als sich ein grimmiges Murren hören ließ,„bindet unsere armen Jungen los und reibt ihnen tüchtig die Gelenke. — Wo sind Pferde und Waffen?” Mit unheilverkündendem Stirnrunzeln blickte er dem Kapitän ins bleiche Gesicht.

„In den Stallungen des Gasthofes!”

„Ah, das trifft sich vorzüglich — eilt euch ein bischen, ihr Füsiliere, ich werde unterdessen feststellen, ob die Ulanen dort wirklich tot sind, — bindet dem Manne hier die Hände und steckt ihm einen Knebel unter den Schnurrbart, Wurst wider Wurst!”

Nach zehn Minuten brachen wir mit den Befreiten, fast sämtlich verwundeten Kameraden, auf und zogen stillschweigend zum Gasthof zurück. Nichts hatte sich bisher gerührt, auf das wütende Gebell einiger Hunde schienen die Moblots in den Häusern schon deshalb nicht zu achten, weil sie ja selbst ortsfremd waren, und deshalb die Aufregung der Köter sehr natürlich schien.

Die Toten ließen wir natürlich zurück, unter ihnen befand sich auch der Führer der überfallenen Patrouille, ein junger Vizewachtmeister. Von den Ulanen erfuhr der Herr Lieutenant, daß die Einwohner sich nicht an dem Ueberfalle beteiligt hatten; zur augenscheinlich großen Genugthuung des menschenfreundlichen Mannes konnte er daher von jeder Strafmaßregel absehen. Die Moblots wurden nun aber sämtlich an den Händen gefesselt und durch Stricke miteinander verkoppelt, von irgendwelcher Rücksichtnahme und von soldatisch-kameradschaftlicher Behandlung war keine Rede mehr.

Still wie wir gekommen, zogen wir wieder ab, nicht einmal der Hufschall der allerdings im langsamen Schritt geführten Pferde weckten die wackren Schläfer und Verteidiger Frankreichs. Bereits eine halbe Stunde nach Mitternacht trafen wir ohne den geringsten Verlust, ohne einen einzigen Schuß abgefeuert zu haben, wieder in Bussy ein, wo ein Ordonnanzoffizier der Division, sowie der Regimentskommandeur der Husaren unserer Rückkunft harrten und uns vor dem Dorfe schon entgegenkamen.

Der alte Husar war voller Freude über den kecken Streich und den „unverschämten Dusel”, wie er sich lachend ausdrückte, und schüttelte unserm prächtigen verwegenen Führer wiederholt kräftig die Hand.

„Herr Oberstlieutenant,” hörten wir Lieutenant vom Bogen, bescheiden das wohlverdiente Lob auf seine Untergebenen übertragen, antworten, „derartige Unternehmungen bedingen vor allem solche vortreffliche Truppe, wie Gott sei Dank, meine Kompagnie ist. Im übrigen aber wird der schandbar nachlässige Vorpostendienst der Franzosen im allgemeinen und der Moblots im besondern noch lange nicht genug ausgenützt! Mit nächtlichen Ueberfällen könnten wir sehr gute und recht billige Geschäfte machen, auch im großen Stile!”

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